LETZTES HINDERNIS VOR DEM GENUSS | Zischsch-Geräusche
Am Anfang war der Korken. Ein zylinderförmiges Stück Baumrinde, das als Verschluss von Flaschen diente, und eine Erfindung, die die Jahrtausende bis heute überlebt hat. 1892 kam als Neuerfindung der Kronkorken hinzu.
Jahrzehntelang war das ein auf dem Flaschenhals gequetschtes rundes Stück Blech mit erst 24, später dann 21 Zacken. Zur eigentlichen Abdichtung diente innen eine Schicht aus Kork. Immerhin!
Als dann in den 1960ern Plastik die Welt zu erobern begann, gab es schon bald nicht mal mehr eine Korkschicht in den Verschlüssen. Der Name Kronkorken änderte sich nicht.
Seit es sie gibt, wird diese Innovation des Verschließens auf der ganzen Welt jede Sekunde millionenfach rücksichtslos von Flaschenöffnern verbogen, wobei sie mutig, trotz des Malträtierens, freudige Lebensgeräusche von sich gibt, um dann aber doch achtlos weggeworfen zu werden.
Der Kronkorken.
Täglich laufen wir an ihnen vorbei. Oder plätten sie aufs Pflaster. Kaum jemand ist sich darüber im Klaren, dabei eine wahre Kunstwelt mit Füßen zu treten. Ihre Vielfalt ist umwerfend, eben auch wegen der Breite der Produktpalette. Ob Softdrink oder Bier, ob Mineralwasser oder Soda; alles, was so herrlich lebendig sprudelt, wird für uns von den Kappen frisch gehalten. Und die Verschlüsse selbst tragen Farben, Typografien, Vorstellungen … Das reich bebilderte Spektrum des grafischen Designs, das diese Blechkreise oftmals zu Miniaturkunstwerken macht, wird aber mit leichtfertiger Gestik zum Abfall der Moderne.
„So nicht!“
Joerg Kitzing, Artist/Recyclist in Berlin, hebt die Kunst der Verschlüsse aus ihrer Vergangenheit heraus und zeigt mit kreativen Mitteln, wie historisch zeitgemäß und auch bleibend zukunftsträchtig diese normalerweise kaum betrachteten und ebenso wenig geachteten Bildträger im Laufe ihrer Geschichte immer gewesen sind.
Die fünf Darstellungen über die Kronverschlüsse sind divers und rufen Reminiszenzen an verschiedene Kunstströmungen wach, die einfache Gegenstände von der perzeptuellen Ignoranz des Alltags in die klare Welt des Anschaulichen rückten. Das gezeigte Panorama wirkt dabei durchaus wie eine Hommage an die Vielfalt und Wandlungen des Lebens selbst. Das ist umso bemerkenswerter, weil das zentrale Objekt der ganz normale Kronkorken bleibt. Ein Ding, das jeder kennt, das aber wegen seiner Allgegenwärtigkeit nicht die Aufmerksamkeit erfährt, die das Bilduniversum, das es herzeigt, verdient.
1 I Die seltenen Originale, die seltsame Berührung mit der Vergangenheit! So manch ein Sammler mag das in den Wahnsinn treiben. Aber schon im ersten Bild, „For the Originals“, spielen die Hunderte von Exponaten, sorgfältig in einem Passepartout hinter Glas eingerahmt, keine explizit historisierende Rolle, sie wollen vielmehr Licht auf den Aspekt des Designs richten, womit es Coca-Cola, sowohl in der Gestaltung des Logos als auch in der Form der Flasche, schon im 19. Jahrhundert fast beispiellos gelang, eine Brücke zwischen Kunst und Kommerz zu schlagen.
2 I „For the Designers“, das zweite Bild in der Reihe, zeigt nicht weniger als 19 x 28 = 532 unterschiedliche Kronkorken von Coca-Cola aus aller Welt und Epochen ihres Daseins. Erstaunlich pluriform und doch konstant wirkt dabei der Werdegang des anmutenden grafischen Entwurfs. Vielleicht gerade, weil die wie frische Meereswellen geschwungenen Buchstaben uns wie ins Gehirn gebrannt sind, wird uns deren variable Qualität beim fröhlichen Zischen einer geöffneten Flasche nicht recht bewusst. Der Konsument wird immer eher im Bereich des Unterbewussten von den optischen Reizen angebotener Produkte berührt. Danach, meistens erst viel später, wird die Vergangenheit in Sammlungen archiviert und durchaus sehenswert in ein zweites Blickfeld gerückt. Und erst dann werden die modischen Sequenzen der Präsenz eines Produktes und die Ästhetik des sich ändernden Designs auf ihren wahren Wert geschätzt.
3 I „For the Green Bottles“, die zentral gelegene Hommage auf das Pentychon, ist eine Arbeit, die fast für sich spricht. Seit dem Dadaismus wurde, in gewissen Zeitwellen, von Künstlern das Besondere des Alltags vorgeführt, das Banale zu etwas Speziellem erhoben, spezifiziert sozusagen. In den 1960er-Jahren flammte in Frankreich der Nouveau Réalisme auf, mit Künstlern, die ausstellten, was das gewohnte Dasein hergab. In Amerika gab es plötzlich die Pop Art, in deren Geschichte, wie von Joerg Kitzing gezeigt, offensichtlich etwas gefehlt hat. Wie es seit mehr als einem Jahrhundert keine neue Coca-Cola-Flasche ohne Kronkorken gegeben hat, so bestehen die Verschlüsse selbst auch nur dank der Flasche. Insofern ist die Paraphrase „For the Green Bottles“, auf Blech gedruckt, eine komplett gelungene Vervollständigung einer Ikone der Pop Art aus dem Jahr 1962.
4 I Visuell mit schlagartiger Direktheit, aber auch inhaltlich auf Realismus gezielt, kommen im vierten Werk, „For the Diversity of Life“, eine weitere Wirklichkeit und Wahrheit zum Vorschein. In einer Collage von sich überragenden Bildern scheinen sich verschiedenste Kronkorken gegenseitig verdrängen zu wollen. Man könnte meinen, es sei eine Interpretation des Chaos. Und so darf das auch empfunden werden. Negativ ist das jedoch nicht gemeint. Eher werden hier die Vielfalt der menschlichen Möglichkeiten und somit auch – in einer dynamischen Interaktion – die sich immer rastlos weiterentwickelnden Chancen des gemeinsamen Zusammenlebens illustriert. Gewiss, die gesellschaftlichen Wechselwirkungen des modernen Lebens sind zweifellos wirr und wohl nie ganz perfekt regulierbar. Dieses Bild zeigt aber, nebst dem Impact der Collage an sich, genau das: Freiheit und Vielfalt, ohne Reih’ und Glied – die pralle Diversität des Lebens!
5 I Das fünfte und letzte Bild ist ein originales „Ready Made“, nur nicht ganz nach der traditionellen Definition. Marcel Duchamp begann Ende der 1920er, als Erster mit ausgewählten Fundstücken die Qualität der Realität zu zeigen, meist ohne dabei zusätzlich noch großartige künstlerische Eingriffe zu tätigen. So ist das hier nicht. Aber alle gezeigten Motive sind auch im realen Leben vorzufinden. Auf einem Feld, so weit ausvergrößert, dass der Betrachter sich nicht recht bewusst wird, auf die Grafik eines Kronkorkens zu schauen, befindet sich im Anschnitt die Silhouette der weltberühmten Typografie, eher sogar nur der Schatten dieser, aber hell. Die Kombination der beiden Bildelemente macht deutlich, wie intensiv Design ein ganzes Jahrhundert schmücken kann, ohne dass das Ende des Erfolgs in Sicht ist. Die beste Zukunft einer Geschichte lebt offensichtlich in einer zukunftsweisenden Vergangenheit.
Und vergessen wir nie … die Zischsch-Geräusche.
Jasper Wielaert, Amsterdam